Page 16 - Schulblatt Thurgau 06 2013
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16 F o k u s Schulblatt Thurgau 6 • Dezember 2013
GESPR̈ch
Individuelle Vorstellungen und Werthaltungen k̈nnen – als per-
s̈nliche Meinung transparent gemacht und f̈r die Scḧlerinnen
und Scḧler greifbar – in den Unterricht einfliessen, wissen-
«ambivalentes schaftsorientiert und der Sachlichkeit verpflichtet. Ob eine Mei-
nung oder Werthaltung ins Unvertr̈gliche oder Problematische
kippt, muss im Einzelfall betrachtet werden. Der Geschichtsunter-
Erleben geḧrt zum richt bietet sich zur Auseinandersetzung mit Themen wie Macht,
Freiheit, Gerechtigkeit an, ebenso philosophische Unterrichts-
menschsein»
einheiten zu Fragen wie «Was ist der Mensch?» Die Lehrperson
muss sich bewusst sein, dass sie mit der Klasse ein heterogenes
Gegen̈ber vor sich hat und Sensibiliẗt hinsichtlich gewisser
Reizthemen wichtig ist. Die Auseinandersetzung soll sacho-
rientiert und fair sein, einem wissenschaftlichen Denkansatz
Die Fachstelle infoSekta betrachtet das Sektenpro- verpflichtet. Bei irrationalen oder geschichtsverzerrenden Kon-
blem als gesellschaftliches Pḧnomen. Der umgang zepten wirds schwierig. Diese k̈nnen die Kinder und Jugend-
lichen verwirren oder einscḧchtern. Aussagen wie «Ungl̈ubige
damit liegt in der Verantwortung aller. Was heisst sind verloren» oder «Homosexualiẗt ist s̈ndig» gehen gar nicht.
dies f̈r die Schule?
Was ist der unterschied zwischen einer sekte
Urs Zuppinger
und einer Freikirche?
Ihre Frage basiert auf einem theologischen Definitionsver-
Dsẗndnis: Demnach ist Freikirche eine christliche Gemeinschaft;
«frei» bezieht sich auf die Unabḧngigkeit vom Staat und auf
ie Religionsfreiheit ist richtigerweise durch die Rechts- die Freiwilligkeit der Beitrittsentscheidung (bewusste Erwach-
ordnung gescḧtzt. Die geltenden Gesetze m̈ssen senentaufe). Der theologische Begriff versteht unter «Sekten»
auch von allen religïsen Gruppierungen eingehalten
Gemeinschaften, die neben der Bibel zus̈tzlich ausserbiblische
werden. Wo dies nicht geschieht oder wo vereinnahmende Mittel Wahrheiten oder Offenbarungen beiziehen oder die Heilige
eingesetzt werden, ist Kritik erlaubt und notwendig. Der Fach- Schrift umdeuten. Unsere Erfahrung bei der Fachstelle infoSekta
stelle infoSekta geht es in der Beratung um eine klientenorien- zeigt, dass diese Kategorisierung ein Schubladendenken f̈rdert
tierte Auseinandersetzung, eine Auslegeordnung zur aktuellen (Sekte ja – gef̈hrlich vs. Sekte
Lebenssituation der betroffenen Person. Das SCHULBLATT nein – unbedenklich), das dem
fragte bei der Gescḧftsf̈hrerin Susanne Schaaf nach.
Pḧnomen nicht gerecht wird.
Hilfreicher scheint mir der An-
søren kirkegaard schrieb, dass die Menschen verzwei- satz, eine Gemeinschaft hin-
felt versuchten, «sich selbst sein zu wollen». Wo wird sichtlich der Auspr̈gung ihrer
«Zweifel sind die Einfalls- es f̈r Lehrpersonen im religïsen kontext heikel?
Strukturen und Prozesse zu be-
An die Rolle einer Lehrperson sind vielf̈ltige Anforderungen urteilen. Je mehr sektenhafte
tore der D̈monen»
und Erwartungen von unterschiedlicher Seite gekn̈pft: vermit- Merkmale vorliegen, desto
teln von Wissen, sozialisieren, f̈rdern, leiten, begeistern, inte- problematischer ist die Gruppe
grieren, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig ist die Lehrperson einzustufen. Als sektenhafte
ein Individuum, eine Pers̈nlichkeit, die menschlich greifbar und Kriterien gelten beispielsweise
glaubẅrdig sein soll. Ich pers̈nlich habe beste Erinnerungen eine autoriẗre Struktur mit
an Lehrpersonen mit Ecken und Kanten, die nicht unbedingt be- einer unanfechtbaren bis gott-
quem, aber menschlich warm und authentisch waren. Lehrper- ̈hnlichen F̈hrungsfigur, Eli-
sonen k̈nnen ihre eigenen Wertehaltungen in angemessener tebewusstsein, Absolutheitsanspruch, Unterordnung indivi-
Weise in den Unterricht einfliessen lassen, gleichzeitig sind sie dueller Bed̈rfnisse unter die Gruppennorm, Milieukontrolle,
aber auch verpflichtet, im Schulalltag sachlich und fair ̈ber Einscḧchterung, Kritikverbot u.a. Mit dieser Sichtweise k̈nnen
Themen zu informieren. Es handelt sich um einen Balanceakt. nicht nur die bekannten sektenhaften, sondern auch gewisse
Heikel wird es dann, wenn Werte und Vorstellungen vermittelt esoterische Gruppen betrachtet werden. Das gilt auch f̈r Ge-
werden, die mit jenen einer modernen, freiheitlich-solidarischen meinschaften innerhalb der Landeskirche wie beispielsweise
Gesellschaft kollidieren, also beispielsweise erzkonservative, die Personalpr̈latur Opus Dei der r̈misch-katholischen Kir-
einscḧchternde oder diskriminierende Ansichten.
che, die durchaus problematische Aspekte aufweist. Auch in
strengen freikirchlichen Gemeinschaften k̈nnen enge Milieus
Muss somit die religïse Individualisierung der vorherrschen, die den Mitgliedern das freie Atmen erschweren:
Lehrperson vor der schulzimmerẗr Halt machen?
hoch moralisch, schematisch (schwarz – weiss, gut – b̈se, mit
Bis zu einem gewissen Grad ist das sicherlich der Fall. In der Gott unterwegs oder mit Satan). In solchen Milieus geht die F̈-
Schule kommen Kinder mit unterschiedlichem familïrem und higkeit des Perspektivenwechsels verloren, es entwickelt sich
kulturellem Hintergrund zusammen. Eine Lehrperson ist im Un- eine Art Monokultur, es besteht kaum Raum f̈r ambivalentes
terricht Berufs- und Privatperson, Vorbild und Vertrauensperson.
Erleben. Ambivalentes Erleben geḧrt zum Menschsein. Wenn