Page 23 - Schulblatt Thurgau Juni 2015
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PRAXIS
Erfolgreich intervenieren bei störendem Verhalten
Es ist oft eine grosse Herausforderung, sinnvoll und effektiv auf störendes Verhalten zu reagieren. Wie gelingt es einer Lehrperson, eine nachhaltige Verän- derung zu ermöglichen?
Gabriela Wartenweiler, Fachbereichsleiterin Schulpsychologie, AV
Die dritte Klasse sitzt im Mathematikunterricht. Die Stimmung ist unruhig. Kaum dreht sich Frau Huber zur Tafel, schnappt sich Leandro das Heft seines
Banknachbarn, was diesen zu empörten Ausrufen veran- lasst. Frau Huber dreht sich um und sagt: «Leandro, was tust du schon wieder? Wieso nimmst du Brian das Heft weg? Du weisst ganz genau, dass wir das nicht tun. Gib es ihm sofort wieder zurück!»
Während Leandro das Heft zurückgibt, sticht ihn Brian unter dem Tisch mit dem Bleistift ins Bein, was dazu führt, dass Lean- dro Brian das Heft auf den Kopf schlägt. Die Lehrerin ruft nun aufgebracht: «Leandro, jetzt reicht’s! Wieso kannst du nie ma- chen, was man dir sagt? Ständig störst du. Schau, alle anderen wollen arbeiten und nur wegen dir funktioniert das nicht. Jetzt gehst du raus auf den Flur und wartest dort. Ich will dich hier nicht mehr sehen.»
Die Reaktion von Frau Huber ist durchaus verständlich und führt kurzfristig vielleicht sogar zu einer Beruhigung der Situa- tion. Nachhaltige Veränderungen können so allerdings nicht erreicht werden. Um diese zu bewirken, ist es hilfreich, die Mo- tivation für ein bestimmtes Verhalten eines Kindes zu kennen. Das Verhalten eines Menschen ist darauf ausgerichtet, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn elementare Bedürfnisse nicht befriedigt sind, werden Verhaltensweisen entsprechend verändert. Unser Verhalten zielt also immer auf die Befriedi- gung elementarer Bedürfnisse ab und scheint uns in diesem Moment sinnvoll.
Natürlich ist es nicht die Aufgabe der Lehrperson, stets alle Bedürfnisse eines Kindes zu stillen – das Bewusstsein für die- sen Zusammenhang ist zentral für eine wirksame und nach- haltige Einflussnahme auf das Verhalten von Schülerinnen und Schülern zu sein.
Für das Verhalten der Kinder in der Schule sind folgende Be- dürfnisse besonders wichtig (in Anlehnung an Steven Reiss, 2000):
• Wunsch nach stabilen, positiven Bindungen zu anderen Menschen
• Streben nach dem Gefühl von Kompetenz und Kontrolle • Wunsch nach Erhöhung des Selbstwertes und Schutz
unseres Selbstwertgefühls
• Wunsch nach Anerkennung bzw. Bedürfnis danach,
Kritik und Ablehnung zu vermeiden
• Bedürfnis nach Ordnung und Struktur
• Wunsch, Angenehmes zu erleben bzw. Wunsch nach
Aktivierung
Da störende Verhaltensweisen meist auf unerfüllte Bedürf- nisse zurückgeführt werden können, sind nicht nur unmittelbare Reaktionen auf ein Verhalten erforderlich, sondern auch weiter- führende Massnahmen:
Die Beziehungsqualität zwischen Kind und
Lehrperson aktiv pflegen
Die Qualität der Beziehung zwischen einer Lehrperson und ihrer Schülerin/ihrem Schüler hat einen entscheidenden Einfluss auf das Verhalten und gemäss der Hattie-Studie (2009) auch auf deren Leistungsfähigkeit. Für ein weniger leistungsstarkes Kind ist es besonders wichtig zu erleben, dass es – unabhängig von den Leistungen – ernst genommen und geschätzt wird. Es
Schulblatt Thurgau 3 • Juni 2015
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