Page 19 - Schulblatt Thurgau Juni 2015
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CARTE BLANCHE
Noten als kürzeste Rückmeldung
Eignen sich Noten als Rückmeldung an die Lernenden? Das SCHULBLATT bietet zwei Lehrpersonen eine Carte Blanche.
Schulblatt Thurgau 3 • Juni 2015 F O K U S 19
«Noten – Tracker für das Lernen und Lehren»
Dr. Heinz Hafner, Mittelschullehrer Deutsch und Französisch, Frauenfeld
In einer der letzthin erschienen Beobachter-Ausgaben wurden Fitness- Tracker für den täglichen Gebrauch vorgestellt und von Fachleuten auf ihre Tauglichkeit hin kommentiert. Schlussfolgerung: Einige Funktionen schnitten beim Experten-Urteil eher schlecht ab, wie das Messen eines «Stresslevels» oder des «Sauerstoffgehalts im Blut»; andere wurden als «sinnvoll oder gar sehr sinnvoll» erachtet. Das traf etwa auf die «zurück- gelegten Schritte» oder die «Schlafüberwachung» zu.
Feedback und Beurteilung mögen im Fitness- und Gesundheitsbereich also durchaus nützlich sein – oder eben auch nicht. Auch für die Schule gilt, dass nicht alles Messen und Beurteilen gleichermassen sinnvoll ist. Wenn die Gesundheitsexpertinnen und -experten beim Beurteilen ei- niger Funktionen der Fitnessbänder zögern, verweisen sie auf noch nicht vorhandene Erfahrungen. Da hat das Messen, das Beurteilen und das Benoten im Schulwesen einen wesentlichen Vorsprung: In den letzten zweihundert Jahren haben sich in allen Bereichen der Volksschulen und der Schulen der Sekundarstufe II sinnvolle Benotungsrhythmen, -mass- stäbe und Verfahren herausgeschält. Ich darf in diesem Zusammenhang die Aufnahmeprüfungen an die Berufsmittelschulen und die Gymnasien des Kantons Thurgau erinnern: Seit vielen Jahren hat sich diese Prü- fung als ein bewährtes Instrument mit guter prognostischer Sicherheit etabliert. Das ist im Sinne sowohl der Bildungspolitik (Kostenfrage) als auch der Eltern, wird doch mit Hilfe der Aufnahmeprüfung signalisiert, ob jungen Männern und Frauen eine anspruchsvolle Allgemeinbildung mit Möglichkeiten zu einer aufwendigen Ausbildung an einer Hochschule zugemutet werden kann (Beratungsaspekt). Die Aufnahmeprüfungen sind aber auch Ort des Dialogs, wo «Best Practice» oft fruchtbaren Ge- sprächsstoff der Lehrpersonen der beiden Stufen ist (Zusammenarbeit).
«Noten fördern Mittelmässigkeit»
Esther Stokar, Unterstufenlehrerin, Weinfelden
Die Bewertung mit Noten ist einfach, schnell und scheinbar sachlich. Leider fördert die Notengebung aber Mittelmässigkeit, denn viele Lehr- personen geizen mit der besten Note: Die leistungsstarken Kinder hätten aber meistens die Note 6 und mehr verdient, denn in der Primar- schule wird eine Note unter 3 nicht vergeben. Das aufmerksame Kind lernt also, dass ausserordentliche und gute Leistungen gleich benotet werden, schwache Leistungen aber mildernd verbrämt meistens eine 4 oder 3 bis 4 ernten. Da sich Noten auf die Gruppennorm beziehen, erleben die Lernstarken und die Lernschwachen nicht die förderliche Anerkennung ihrer Anstrengung und ihrer Lernfortschritte. Noten sind unpersönlich, undifferenziert, oftmals wiederkehrend entwürdigend – und eigentlich langweilig nichtssagend.
Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die natürlich gegebene Lernfreude des Kindes zu erhalten und auch im schulischen Lernprozess zu nützen, zu würdigen und zu belohnen. Kinder wissen genau, wie unterschiedlich sie sind. Eine positive Lernkultur anerkennt unterschiedlichste Lern- schritte und Lernleistungen, bezieht sich also auf die Individualnorm. Statt Noten brauchen Lernende verbale Rückmeldungen: mündlich oder schriftlich, als Satz oder mittels Kriterienliste, von der Gruppe, von der Lehrperson, von einem einzelnen Kind. Sie brauchen Auskunft über die tatsächlich erbrachte Leistung in Bezug auf allgemeine und individuelle Lernziele, sowie auf Arbeitstempo, Konzentration, Arbeitshaltung, Anstrengung, Denkvermögen, Lösungswegstrategien und persönlichen Fortschritten. Hilfreiche Verbesserungshinweise und eine förderorien- tierte Frage sind ebenso wertvoll. Diese Lerngemeinschaft diskutiert über Qualität und Fortschritte und geizt nicht mit Applaus, der nun für alle erreichbar ist. Und statt Noten sammeln wir Beweisstücke. Das ist natürlich alles andere als langweilig!


































































































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