Page 47 - Schulblatt Thurgau Februar 2015
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«Ein jeder fehler wird gestrafft je nachdem er beschaffen ist.»
dynamik, Elternaspiration, Stillsitzen usw. – das ist genug für ein dynamisches Verhältnis zwischen Kind, Lehrperson, Curriculum und Klasse. Das verlangt nach Classroom-Management, frü- her hiess das «Schuldisziplin». Der aus Gmünd im Württember- gischen stammende Zürcher Schulmann Ignaz Thomas Scherr veröffentlichte 1835 die Schrift «Entwurf einer Verordnung über Ordnung und Zucht in den zürcherischen Volksschulen». Er schreibt: «Unter Schuldisziplin verstehen wir den Inbegriff der- jenigen Vorschriften, welche insbesondere auf ein geordnetes Schulleben und auf die Erfüllung der eigentlichen Schulpflichten Bezug haben.» (Scherr, 1835)
Wer nun an verordnete Prügelstrafen denkt, liegt falsch, denn Schulmeister waren nicht einfach staatlich legitimierte Wrestler, auch wenn es gewalttätige Lehrer bis in die jüngste Geschichte gab. Scherr lehnte die Körperstrafe ab.7 Von Gewalt soll nicht die Rede sein, sondern davon, wie disziplinarische Entgleisungen vermieden werden können. In seiner Schrift regelt Scherr den Unterricht in drei Bereiche: Räumliche Ordnung, zeitliche Gestal- tung und Interaktionsmodi. 8 Der Raum wird in aussen und innen differenziert. Das Innen wird von der Aussenwelt abgegrenzt und passende Regeln unterstützen den Unterricht mit Schulgebet, Ruhe, Ordnung sowie die Zugehörigkeit zu einer Klasse. Die oft beschworene heimelige Schulstube wich mit der Schulpflicht dem grossen und immer noch zu kleinen Schulzimmer angesichts der Anzahl von Kindern. Scherr rechnete mit deren 120 bis 150 in Zürich9. «Der Schullehrer muss unausgesetzt lehren und wa- chen während der Schulstunden; er hat gar nicht Zeit, nur einen Augenblick ruhig im Sessel zu sitzen.»10 «Lehren und wachen» – Kost verweist in Anlehnung an Foucault auf den «zwingenden Blick», der Undiszipliniertheit vermeiden soll.11 Gleichzeitig sind die Augen der Kinder auf den Lehrer zu richten. Damit soll ver- hindert werden, dass sich die Kinder gegenseitig anschauen – was oft der Beginn eines Schabernacks ist. Das Schulzimmer wird hierarchisch räumlich codiert. Vorne – in der Mitte – steht das erhöhte Lehrerpult. Die beiden Klassenaufseher (auch Lehrschüler genannt) sitzen in der vorderen Bankreihe links und rechts des Mittelgangs. Diese Aufseher werden jede Woche neu ernannt. Sie leisten Zubringedienste für den Lehrer, ermahnen oder bezeichnen faule oder fehlende Kinder. Manchmal leiten
sie Wiederholungsübungen. Neben diesen beiden Ehrenplät- zen gibt es zwei Strafbänke, je eine für Mädchen und Knaben. Strafen erfolgen nach dem Prinzip der räumlichen Absonderung: Wer zu spät kommt, muss in die hinterste Bank sitzen, Plau- dertaschen stehen auf, böswilliges Necken endet in der Ecke, und wer unhöflich zum Lehrer ist, wird aus Teilen des Unterrichts ausgeschlossen. Gibt ein Kind ein böses Beispiel ab, werden die anderen Kinder angewiesen, sich auf dem Schulweg von ihm fernzuhalten.12 Neben der Disziplinierung durch die räum- liche Zuordnung erfolgte eine weitere durch die Zeit: Am Anfang eines jeden Unterrichts steht die Pünktlichkeit. Der Unterricht endet «mit dem Stundenschlag.»13 Die Lektionen richten sich nach einem zeitlich sequenzierten Plan. Die Strukturierung steht über der inhaltlichen Orientierung. Die Aufteilung in Jahrgangs- klassen und ein zeitlicher Unterrichtsverlauf gehen einher mit der Annahme eines «Normschülers.» 14 Schulischer Erfolg definiert sich in der Folge durch Gleichaltrigkeit, gleichzeitigen Wissens- erwerb bei gleicher Methode, in gleicher Zeit und dem Abrufen dieses Wissens zum selben Zeitpunkt mit gleicher Dauer.15 Die Annahme dieses Normschülers führt zu Spannungen – und das ohne bösen Willen oder Unerzogenheit. Eine weitere Vorgabe, diszipliniertes Verhalten zu fördern, besteht bei Scherr in der
Bei vielen bildlichen Schulmeisterdarstellungen ist die Rute das unverzichtbare Attribut. So auch bei dieser Miniatur aus der Heidelberger Liederhandschrift anfangs des 14. Jahrhunderts (Horst Schiffler, Rolf Winkler (1999): Tausend Jahre Schule. Eine Kulturgeschichte des Lernens in
Bildern. 6. Auflage, Belser Verlag, Stuttgart und Zürich, S. 43)
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