Page 22 - Schulblatt Thurgau Februar 2015
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«Kinder und Jugendliche leben aus Motiven, Attraktoren und Zielen, für die sie brennen.»
ESSAY
Tugenden von
gestern oder Haltungen für die Zukunft?
Disziplin und Verantwortung. Wie Kinder und Ju- gendliche ihre Kräfte entfalten und über sich hinaus- wachsen.
Prof. Dr. Wilfried Schley, emeritierter Ordinarius der Uni Zürich
In diesem Text möchte ich über Haltungen sprechen, über Anstrengungsbereitschaft, über Zielstrebigkeit und Gemein- schaftssinn. Im weitesten Sinne geht es um das überfach-
liche Lernen und das Schulleben in Gemeinschaft.
• Wann treten Lernende aus ihrem Kokon heraus und entfalten ihre Kräfte?
• Welchen Beitrag kann dazu die Schule leisten?
• Was bedeutet diese Aufgabe für die Rolle der Lehrenden als
Lernbegleiter?
Über die individuellen Perspektiven hinaus gilt die Frage der Verhaltensethik, dem Einhalten von Spielregeln und der Bereit- schaft, sich an geschlossene Vereinbarungen zu halten.
Kleine Vorrede
Ich schreibe diesen Text in der kalten, dunklen, häufig nassen Jahreszeit. Das Thema führt mich an meine eigene Entwicklung zurück, ins frühe Jugendalter. Im späten Herbst und langen Win- ter machte ich mich an drei Tagen in der Woche auf den Weg zum Stadtpark, um dort für etwa zwei Stunden meine Runden zu drehen, um zu trainieren. Ich brachte die Disziplin auf, bei Wind und Wetter, bei Kälte und Regen zu laufen. Und ich wusste, dass dieser Einsatz notwendig war, um im Sommer bei den Sprint- wettbewerben mit Antrittsschnelligkeit und Kondition zu punk- ten. Es war ein Leistungsmotiv und zugleich mehr. Es war ein Sieg über die Trägheit. Eine Antizipation als Treiber. Niemand hat diese Leistung gefordert. Es war eine persönliche Bereitschaft – ganz vergleichbar den Ergebnissen der «Marshmallow-Studien», die den Verzicht auf unmittelbare Belohnung zugunsten späterer grösserer Ergebnisse untersuchen.
Meine disziplinierte Haltung wurde allerdings von meinem Trainer wahrgenommen, der zugleich Klassenlehrer war: Herr Ackermann. Dieser Lehrer war jemand, der sich für mein Trainingsverhalten und meine Ambitionen interessierte. Ja, er war einer, der es über- haupt bemerkenswert fand.
Kernbotschaft
Diese Situation soll als eine prototypische Erfahrung für Wer- tepräferenzen gelten, die von den Betreffenden selbst vorgenom- men werden, wenn Ihnen ein Ziel, ein Ergebnis, ein Vorhaben gewichtig genug erscheint und einen Anreiz darstellt. Ich lege gleich zu Beginn meine Kernthese dar. Sie lautet: Kinder und Jugendliche leben aus Motiven, Attraktoren und Zielen, für die sie brennen. Wenn sie ihr Thema gefunden haben, ist die Be- reitschaft häufig ungewöhnlich hoch, dranzubleiben. Das zeigt sich in vielen Vorhaben und Projekten, in Theateraufführungen, Orchesterproben, in der Vorbereitung auf Wettkämpfe und in der Entwicklung von Ideen.
These
Die Lernenden sind heute in vielen schulischen Situationen und Kontexten weder über- noch unterfordert. Sie sind eher fehlge- fordert. Die Anforderungen unterschreiten ihren Gestaltungswil- len und ihre Bereitschaft, sich einzulassen. Einige beherrschen den Stoff bereits, um den es geht und andere haben sich schon resigniert abgekoppelt. Für sie ist die Anforderung zu hoch oder kommt auf eine Weise daher, der sie nicht folgen können. Viele finden die Themen nicht, für die sie sich begeistern könnten. Die klassische Werteerziehung fragt die Betreffenden nicht. Sie geht nicht in den Dialog, vielmehr vermittelt sie Werte und setzt sie als Orientierungen. Wie gelingt aber eine Stimmigkeit und Passung der Regeln aus Sicht der Kinder und Jugendlichen? Wie entwickeln sie ihre Leidenschaft. Wann sind sie bereit, ge- meinsamen Haltungen und Lösungen Vorrang zu geben und ihre Wünsche und Interessen zurückzunehmen? Dazu gehören die Aushandlung, der Perspektivenwechsel und das einfühlende Verstehen. Junge Menschen sind besonders bereit, sich in einem identifikatorischen «Wir» zu finden und dafür Zeit, Kräfte, Energien
und Beiträge einzusetzen. Sie sind auf Kontakt und Kooperation angewiesen, um ihre Identität zu finden. Ja, es liegt sogar eine starke Anziehung darin, ausserhalb der Familie Bezugssysteme aufzubauen. Die Position bei den «Peers» hat im Jugendalter einen hohen Stellenwert. Das Zugehörigkeitsbedürfnis ist in be- sonderer Ausprägung bedeutsam. Die Entwicklungspsychologie hat den Stellenwert gemeinsamen Handelns oder kollektiver Be- wältigung von Aufgaben als wertvolle Motive herausgearbeitet. Die stärkste Kraft haben Vorhaben, Werte und Ziele, die einem Urhebererlebnis entspringen. Kinder und Jugendliche wollen ge- fragt werden und sich nicht unterwerfen.
Verantwortliches Handeln gründet auf Kohärenzsinn
Jugendliche gewinnen Verantwortung, wenn sie ihre Resilienz, verstanden als Bewältigbarkeit von Situationen, zu entfalten lernen. Antonovsky plädiert dazu für die Herausbildung eines