Page 23 - Schulblatt Thurgau Februar 2015
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Schulblatt Thurgau 1 • Februar 2015 F O K U S 23
«Die äussere Struktur prägt und formt auch die innere Struktur.»
PORTRÄT
Wilfried Schley: Ausbildung und Tätigkeit als Sonderpädagoge und Psychologe, Weiterbildung zum Psychotherapeuten, Systemischen Berater und Coach. 12 Jahre tätig als Ordinarius für Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Wahrnehmung der Aufgaben als Stiftungs- ratspräsident der Leadership Foundation und gemeinsam mit Prof. Dr. Michael Schratz als Wissenschaftlicher Leiter der Leadership Academy. Arbeiten auf den Gebieten der Schulentwicklung, Innovation und Systemberatung, Forschung zu Themen der Integration, Leadership, Kooperation und Führungskompetenz.
Kohärenzsinns. Dieser setzt sich aus drei Komponenten zusammen.
• Das Lernen/der Wert/das Ziel muss bedeutungsvoll sein.
• Die Aufgaben müssen darüber hinaus sinnvoll sein.
• Und es muss möglich sein, die Ziele zu erreichen.
Das Ich und das Selbst
Ich gehe auf zwei geistige und seelische Instanzen besonders ein und eröffne einen Dialog zwischen dem «Ich» und dem «Selbst». Wie entwickelt sich die Persönlichkeit so, dass die seelisch geistigen, aber auch kognitiven Ressourcen aktiviert werden? Wie gestaltet die Schule Gelingensbedingungen für Haltungen sich selbst und der Welt gegenüber? Wie entfaltet sich Verantwortung? Verantwortung und Disziplin sind Hal- tungen, die von innen kommen. Ich bin bereit, mich einzusetzen, bin in der Lage, mich auch zurückzunehmen. Im Erziehungspro- zess in Familie und Schule kommen Verantwortung, Disziplin und Einhalten von Regeln oft als Forderungen daher, weniger als etwas, das sich im Inneren bildet. Die Stärkung des «Selbst» gelingt über positive Zuschreibung, über Beachtung, über Zu- trauen und Ernstnehmen. Ein in seinem «Selbst» gestärkter Heranswachsender ist in der Lage, auch anderen gegenüber wertschätzend und respektvoll zu sein.
«Motivation ist die Beseitigung von Demotivierung!»
In einer respektvollen Beziehung gelingt es, eher über wertschät- zendes, erkundendes Fragen an die Haltungen, Bereitschaften, Bedürfnisse und Wünsche heranzukommen als über Appelle und Instruktionen. Das Erleben der Kinder und der Heranwachsen- den im Jugendalter ist oft von Ambivalenz und Infragestellung bestimmt. Viele provokante Verhaltensweisen entspringen dem Bedürfnis, diese inneren Zweifel zu überspielen. Wer als Päda- goge souverän in Beziehung tritt, lässt sich nicht provozieren, viel- mehr vermag er die hinter dem provokanten Auftreten liegenden Bedürfnisse zu adressieren. Oder aber, er/sie entschuldigt sich sogar. «Entschuldige, ich hätte Dich auch fragen können, was Dir in dieser Situation besonders wichtig ist.»
Abschied nehmen
Wir kommen damit auf die Paradoxie der Entwicklung von Hal- tungen zu sprechen und nehmen Abschied von zwei sehr verbrei- teten Wirkungsvorstellungen:
• Bewertungsmentalität und Appellhaltung
Wie lernt ein Schüler Verantwortung zu übernehmen, Initiative zu ergreifen und Entscheidungen zu treffen? Selbstbewusstsein ist das Ergebnis von Zuschreibungen und Zu- trauen. Die positiven Attribuierungen sind Balsam für die Über- windung des Selbstzweifels und der Ambivalenz. Kinder fordern uns heraus, weil sie suchen, in uns ein Gegenüber finden wollen, das in Augenhöhe, mit Respekt und Souveränität auf ihre Be-
dürfnisse eingeht. Provokationen sind dabei Beziehungseinla- dungen. Wir sollten sie annehmen.
Kompetenzen und Haltungen der Lehrpersonen
Haltungen vorleben ohne zu belehren, darin liegt ein gutes Mo- mentum für den Erfolg.
• Souverän bleiben, ganz gleich was kommt
• Wertschätzendes Erkunden statt Anweisung geben
• Im Kontakt sein, um Wünsche und Erwartungen zu äussern • Selbst als Modell für Berechenbarkeit und Respekt agieren
«Bitte nicht vom Beckenrand springen!»
Diesen Satz fand ich in einem Lernatelier einer Sekundarschule an die Wand geschrieben. Der grosse Raum für gleichzeitig 40 Schüler war das Ergebnis eines Umbaus. Der Raum war zuvor ein Schwimmbad, das nicht mehr genutzt werden konnte. Für die Renovierung war kein Geld da. Jetzt bot sich die neue Funktion als architektonischer Beitrag an. Dieses ehemalige Schwimmbecken war jetzt ein Raum der Konzentration. Jeder Lernpartner hatte seinen Platz, seinen Computer und ganz offenbar seine ihm selbst klaren und bewussten Aufgaben. Jeder schien für sein Lernen ver- antwortlich und konnte auf Befragen klar und kompetent erklären, woran er/sie gerade arbeitete. Ausserhalb des «Lernschwimmbe- ckens» gab es Instruktionsräume zu thematischen Einführungen und Ergebnisreflexionen und es gab Kommunikationsinseln, in denen kleine Gruppen, angeleitet von einem Schüler als Lern- coach, gemeinsam an Aufgaben arbeiteten. Ich beobachtete ein ruhiges Eingehen auf Fragen und kompetente Erklärungen. Ich nahm eine selbstbewusst kooperierende Gemeinschaft wahr. Alle erlebte ich in guter Orientierung durch Regeln, Rahmen, Richtli- nien und eine tragende respektvolle Atmosphäre.
Menschen in Gemeinschaft folgen Regeln
Die Architektur bildet zugleich eine Lernlandschaft mit einfachen Regeln. Der Raum ist pädagogisch wirksam. Jeder erlebt sich of- fenbar als Lernpartner in Gemeinschaft. Es gilt Räume zu schaf- fen, die Orientierung geben. Die äussere Struktur prägt und formt auch die innere Struktur.