Page 39 - Schulblatt Thurgau August 2015
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GESCHICHTE – GESCHICHTEN
ALO versus Wortvöllerei und Lirilariwissen
Ausserschulische Lernorte ALO finden ihre Begrün- dung im philosophischen Prinzip der Anschauung. Es geht um die Erkenntnisfähigkeit des Menschen und wie er diese erlangt. Durch die Anschauung im oder ausserhalb des Schulzimmers reift ein tiefes Verständnis gegenüber der Natur sowie deren Ge- setzen.
Prof. Dr. Damian Miller, PHTG & Dr. Hans Weber, Schulmuseum Mühlebach
In älteren pädagogischen Lexika und Enzyklopädien findet man keinen ALO. ALO bezeichnet eine Sonderform des Anschauungsunterrichts und bildet zusammen mit der Ar-
beitsschule den didaktischen Gegenpol zur Buchschule. In der Schweizerischen Lehrerinnenzeitung veröffentlichte Helene Stucki(1889bis1988),LehrerinfürPädagogik,Psychologieund Methodik am städtischen Lehrerinnenseminar in Bern, einen Artikel zum Anschauungsunterricht und bezog sich auf J. H. Pestalozzi(1746bis1827).InseinemSinneseidieserUnterricht wider dem «Maulbrauch, der Wortvöllerei, Leerköpferei, dem Li- rilariwissen.»1 Beim Anschauungsunterricht würden alle Sinne aktiviert. Eine Belegstelle findet sie in Pestalozzis Tagebuch über die Erziehung seines Söhnchens. «Ich zeigte ihm Wasser, wie es leicht vom Berg herunter rieselte, es vergnügte ihn. Ich ging einige Steinwürfe weiter hinunter, er folgte mir und sagte zum Wasser: Warte mir, Wasser, ich komme gleich wieder. Ich führte ihn sogleich etwas tiefer zum gleichen Wasser. Lueg, sage ich, 's Wasser kommt auch, es kommt oben abe, es gahit furt, mehr abe. Wir folgten dem Wasser, und ich sagte ihm etlichemal vor: Das Wasser läuft den Berg herunter.»2 Damit wird die sinn- liche Wahrnehmung mit der Handlung sowie dem sprachlichen Ausdruck verbunden. Es sei wichtiger, sich an Blumen und Tie- ren zu freuen und sie liebend zu betreuen, als Insekten in ihre Teile zu zerlegen und über ausgestopfte Tiere kluge Sätze zu machen.3 Gemäss dem Volksschulblatt (1859) ist die Kombina- tion von Anschauungsunterricht mit Muttersprache besonders bildsam: «Die Anschauung reizt und regt die Denkkraft an und lockt gleichsam das Urteil auf die Zunge, welche dasselbe in Worte fasst.»4 Der Autor bekräftigt, dass konkrete Objekte Ge- genstände der Anschauung bilden müssen. Die Gegenstände sind zur Orientierung der Kinder notwendig «indem die Schüler
veranlasst sind, sich im Chaos der auf sie eindringenden sinn- lichen Eindrücke zurecht zu finden.»5 Dieses Denken finde man, so schrieb Gottlieb G. Deussing 1884, im Denken von Martin Luther (1483 bis 1546). Er habe verlangt, «dass der Wortkennt- nis immer die Sachkenntnis und das Sachverständnis vorgehen müsse.»6 In die gleiche Argumentationslinie verortet der Autor den Naturphilosophen und Vordenker des Empirismus Francis Bacon (1561 bis1626). Der Mensch sei Diener und Ausleger der Natur, die er durch Beobachtung sowie Experimente er- kenne. In Abkehr zur platonischen Ideenlehre schreibt er: «Alles kommt darauf an, dass wir die Augen des Geistes nie von den Dingen selbst wegwenden und ihre Bilder, ganz so, wie sie sind, in uns aufnehmen.»7
Die Umsetzung dieses Prinzips auf die Pädagogik sei Wolfgang Ratke (1571 bis1635) zu verdanken. «Dieser stellte im Gegen- satz zu dem geisttötenden Wortlernen ganz allgemein die For- derung auf: ‚Erst ein Ding an ihm selbst, hernach die Weise (den Begriff) von dem Ding [zu lernen]. Alles durch Erfahrung und stückliche Untersuchung.»8 Eine umfassende Systematisierung des Anschauungsunterrichts erfolgte durch Johann Friedrich Herbart (1776 bis1841). Die Anschauung sei ein lebendiger Quell neuer Gedanken und geistigen Wachstums: «Die An- schauung legt eine breite, weite Fläche auf einmal hin: der Blick, vom ersten Staunen zurückgekommen, teilt, verbindet, läuft hin und wieder, verweilt, ruht, erhebt sich von neuem, – es kommt die Betastung, es kommen die übrigen Sinne hinzu, es sam- meln sich die Gedanken, die Versuche beginnen; daraus gehen neue Gestalten hervor und wecken neue Gedanken, – überall
ist freies und volles Leben, überall Genuss der dargebotenen
Fülle!»
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Für die Anschauung reicht ein Schulzimmer oft nicht aus.
Schulblatt Thurgau 4 • August 2015 RUND UM DIE SCHULE 39
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