Page 27 - Schulblatt Thurgau Juni 2015
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ESSAY
Wie wär’s mal mit einem Kompliment?
«Die Kleidung von Lehrpersonen ist im Prinzip Pri- vatsache – und doch ein weitherum sichtbares Merk- mal, welches für Diskussionen sorgen kann. Der beste Weg, diffusen Unsicherheiten zum Thema Gar- derobe zu begegnen ist, sie offen anzusprechen ...»
«... sagt Stilexperte Jeroen van Rooijen
Was man anzieht, ist in unserer Gesellschaft zumeist eine individuelle und freie Entscheidung. Es gibt nicht mehr viele Berufsgruppen, die eine ausformulierte
Berufskleidung vorschreiben. Man trägt meist, was einem ge- rade so gefällt. In den meisten Berufen – auch in der Schule – ist Freizeitkleidung nicht nur geduldet, sondern zum Standard geworden. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen Lehrpersonen Anzüge und Krawatten oder Kostüme und Blusen trugen.
Dass Schüler in Jeans-T-Shirt, Hoodie und Turnschuhen zur Schule kommen, ist schon seit einigen Jahrzehnten ganz normal. Diese Elemente der Freizeitgarderobe sind die globale Norm für Menschen zwischen 12 und 25 Jahren. Dieses Outfit sieht für Burschen wie Mädchen etwa gleich aus – ein Unterschied besteht nur noch im Schnitt der Elemente. Ein neueres Phäno- men ist allerdings, dass auch Erwachsene diese «Uniform» der Jugendlichkeit nicht mehr ablegen, sondern auch mit 50 Jahren noch dieselben Sachen tragen wie die Teenager. Es kann von Vorteil sein, wenn eine solche sichtbare Barriere fehlt – etwa dort, wo ausdrücklich Begegnungen auf Augenhöhe angestrebt werden. Wo es aber auch um Respekt und das Vermitteln von Werten geht, bergen fehlende textile Unterscheidungen auch Konfliktpotenzial.
Zwischen Lehrenden und Lernenden findet bekanntlich stets ein Kräftemessen statt, ein Ausloten von Nähe und Distanz. Wenn es keine textilen Signale mehr gibt, die Unterschiede markie- ren, verliert der Pädagoge ein wichtiges Argument. Lehrer sind sensible Vermittler von Inhalten, verkaufen sich selber aber allzu oft unter ihrem bestmöglichen Wert. Sie sind sich ihrer Wir- kung nicht ausreichend bewusst und oft zu beiläufig oder zu freizeitlich gekleidet. Es gibt ein unausgesprochenes Bewusst-
sein für die Feinheiten und eine Sehnsucht nach Ordnung, aber kein Gespräch darüber. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» hat unlängst eine Untersuchung publiziert, die aufzeigt, «dass sich Schüler bei nachlässig gekleideten Lehrern mehr heraus- nehmen.» Es fehlt ein optisches Signal, das die Rollen klarer definiert, und das führt zu Problemen. Auch die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb vor fünf Jahren schon: «Lehrpersonen, die nicht nur fachlich, sondern auch in Kleiderfragen stilsicher sind, kön- nen viel zu einem erfolgreichen Lernklima beitragen.»
Ich meine deshalb: Lehrpersonen, die sich und ihre Aufgabe ernst nehmen, kleiden sich darum so, dass ihre Kleidung Auto- rität und ein Mass an traditioneller Klasse ausstrahlt. Es muss keine Krawatte und kein Anzug sein. Vergessen wir Foulards und Faltenröcke. Auch lässige, bequeme Kleidung kann eine gewisse formelle Note haben. Die Modebranche hat in diesem Segment, man nennt es auch «Smart casual», sehr viel Entwick- lungsarbeit geleistet und eine moderne, angenehm zu tragende Kleidung zwischen den früheren Segmenten «Business» und «Freizeit» entwickelt. Diese Kleidung – sie enthält formelle Ele- mente, aber auf eine entspannte Art, etwa Sakkos aus Baum- wolle, sportive Hemden, leichte Strickjacken und dehnbare Stoffe – erscheint mir geradezu ideal für Lehrpersonen. Man fühlt sich frei und unbeschwert und ist trotzdem «angezogen».
Der «Smart casual»-Stil ist denn auch Basis eines unverbind- lichen «Dresscodes», den ich mit der Schule Kreuzlingen im Jahre 2014 entwickeln durfte und bis über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fand. Das Feedback auf das Thema «Leh- rer und Kleidung» zeigte auch, dass dieser nonverbale Bereich des Unterrichts oft vernachlässigt wird. Zwar ist den meisten Pädagogen schon klar, dass zu einer Vorbildfunktion auch die im Umfeld ihres Berufes oft belächelte «Kompetenz in Beklei- dungsfragen» gehört. Aber wie diese aussieht und wie man sie anspricht, ist ein heikles Thema.
Mein Vorschlag ist deshalb dieser: Sprechen Sie darüber! Nur das, was angesprochen wird, kann sich auch entwickeln. Baga- tellisieren Sie die Kleiderfrage nicht, denn sie ist mehr als nur eine individuelle Entscheidung. Spielen Sie nicht Verpackung gegen Inhalt aus, denn es ist ja klar: Eine gute Verpackung macht einen sehr guten Inhalt noch anregender. Lehrpersonen sind für Jugendliche Bezugs- und Respektspersonen, ein Grad- messer und ein wichtiger Orientierungspunkt im Finden einer individuellen Wertewelt. Die persönliche Wirkung auf dieses Publikum geht weit über das Vermitteln von Inhalten hinaus, er betrifft auch die Form – Ihre Erscheinung. Guter Stil ist Wissen – aber keine Wissenschaft. Es geht um Geschmack – aber nicht um eine Geschmacksdiktatur. Modebewusstsein ist gut – doch niemand muss ein Modegeck sein.
Der beste Weg, das Thema im Kollegium zu entwickeln ist nicht, Verbote und Dresscodes zu formulieren, sondern im konstruk- tiven und positiven Sinn zu motivieren, wenn jemand mit gutem Beispiel vorangeht. Und wenn es jemand anderes tut, machen Sie Komplimente. Jeder, der sich Mühe gegeben hat, sich gut anzuziehen, freut sich, wenn andere das bemerken. Und die, die daneben stehen und kein Kompliment bekommen, spornt es an, es vielleicht auch mal zu versuchen.»
Schulblatt Thurgau 3 • Juni 2015 F O K U S 27