Page 59 - Schulblatt Thurgau Februar 2015
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Schulblatt Thurgau 1 • Februar 2015 BLIND DATE 55
«Es ist nicht falsch,
wie es tönt, du bist dich nur nicht an diesen Klang gewöhnt.»
PORTRÄTS
Julia Sieber wirkt seit 1,5 Jahren in Warth-Weinigen an der Unterstufe.
Sie wohnt in Kreuzlingen, spielt Squash und fotografiert sehr gerne.
Pascal Miller ist seit 35 Jahren Lehrer und unterrichtet in Romanshorn die 1. bis 3. Klassen. Er ist zudem Flight Instructor, Chordirigent und Programmierer für Lernsoftware.
Pascal: Also, wenn Kinder eine Beziehung zum Stoff haben, können sie sehr ausdauernd sein ...
Julia: Wie sieht dein Schulzimmer aus?
Pascal: Wenn du reinkommst, hast du einen weiten Raum vor dir. Ich will ihn offen gestalten, weil ich möchte, dass die Kinder ihn beleben. Schnell ist eine Reizüberflutung da.
Julia: Bei uns ist alles farbig an den Wänden, Schränken und Türen – sogar rote Schemmel für den Kreis. Ich kriege fast die Krise nach den Sommerferien, wenn alles so kahl ist. Ich bin selbst so eine Farbige ... !
Bild: Fabian Stamm
Pascal: Ja, die Kinder sollen nach den Ferien wie heimkommen, gell. Wir haben eine kluge Wand, weil niemand darauf warten soll, wie viele Zentimeter ein Meter hat. Das steht gleich da. Der Schüler soll einzig wissen, wo er was nachschauen kann (Selbstorganisation, sag ich da). Ich sage ihnen: Ihr habt Zu- gang zu den Lösungen, ihr dürft vergleichen und ihr dürft selber korrigieren. Resultate sollen niemals abgeschrieben werden. Ich will nicht, dass billig geschafft wird. Wir haben, wie gesagt, drei Gruppen und viel Platz für den Sitzkreis. Es gibt ein Theater für Präsentationen. Ein grosser Tisch enthält Materialien und Laptops für alle. Die ersten acht Wochen war es gut, dass jeder für sich sitzen und arbeiten konnte. Nun aber sagen die Kinder, sie wollten einen Familientisch für alle acht. Auch die Sitzord- nung entsteht gemeinsam. Ich will nicht, dass sich jemand aus- geschlossen fühlt.
Julia: Ich habe einen «Lehrerlis»-Tisch eingerichtet, wo jedes Kind mal etwas erklären/beibringen darf. Ich habe die Erfah- rung gemacht, dass weniger Begabte besser erklären und nicht gleich die Geduld verlieren.
Pascal: Ich habe so extreme Leistungsunterschiede; sehr Be- gabte erklären sich schnell bereit, andere zu unterstützen, denen schaue ich dann aufmerksam über die Schultern: Was heisst erklären? «Es gibt doch 12!» ist wahrhaftig nicht sehr hilfreich. Auch im gemeinsamen Musizieren heisst es: Es ist nicht falsch wie es tönt, du bist dich nur nicht an diesen Klang gewöhnt! Mich interessiert, ob wir aus einem Fehler erkennen können, wie er zustande kam. Ich will hinter das Denken schauen. An gewis- sen Nachmittagen sage ich: Heute Nachmittag ist Open-Day und ihr entscheidet, was ihr machen wollt. Ich habe die Gnade zu warten. Das ist der Moment, wo aus dem Chaos der Kosmos entsteht. Aus der Langeweile kann Kreativität erwachsen. Es ist doch schön, wenn die Kinder von sich aus kommen und wollen: Ich will heute sehen, wie die Fünferreihe ausschaut.
Julia: Was ist dein Lieblingsritual? Unser Ritual ist am Montag- morgen mit dem Bericht vom Wochenende und das Vorlesen bei Wochenschluss.
Pascal: Wir singen jeden Morgen. Manchmal zeige ich Bilder von einem Spaziergang, einer Zugfahrt. Manchmal kommen die einen und holen sich eines der Instrumente und legen los, an- dere zeichnen daneben – es wabbert! Die Zäsur zum eigent- lichen Unterricht ist wichtig: So jetzt Antennen ausfahren, jetzt gilt es ernst! 


































































































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